Bekennender Heiner 2022
Peter Benz
Bilder meiner Stadt
Hier war ich immer zu Hause: in Bessungen geboren, in Arheilgen aufgewachsen, in der Heimstätten Siedlung bei Verwandten oft zu Besuch; lange vor der Busverbindung mit den Linien 7 oder 8 bis zur Bessunger Straße dann der lange Fußmarsch zur Siedlung. Das alles prägt und brachte mir die Stadt näher. Die Stadt wuchs mit mir. Mit der Veränderung meiner Lebenskreise nahm die Stadt auch andere Konturen an. Ich bin nie weggegangen; hier bin ich groß geworden. Umzüge fanden im selben Haus statt.
Welches Bild habe ich von meiner Stadt? Ein frühes. Kindheit: die Ruinen waren unser Abenteuerspielplatz. Zusammenrücken auf engstem Raum, um die ausgebombten Verwandten aufnehmen zu können. Freies Feld. Bauern bei der Arbeit, Stallgeruch. Tiefe Wälder, das Kranichsteiner Schloss, der Steinbrücker Teich, der Frankenstein. Aber auch die Fabrik vor der Haustüre: Merck saugt die Menschen morgens an und spuckt sie abends aus, so war das damals: die Fabriksirene signalisierte Anfang und Ende des Arbeitsalltags. Das ferne Hämmern aus der Knell, wenn genietet wurde beim Bahnausbesserungswerk. In diesem Takt regulierte sich das Leben.
Diese frühen Bilder bleiben hängen. Neue kommen nun regelmäßig hinzu. Der Aufbau, die vielen Gerüste in der Stadt. Die größer werdende Auswahl der Geschäfte; nicht mehr auf Marken kaufen zu müssen. Kultur aus Amerika, provisorisch in der „Krone“ dargeboten, später im eigenen Haus an der Kasinostraße, dem heutigen Literaturhaus: vom Comic bis zu Hemingway und Faulkner. Die alten Straßenbahnen, die uns durch die Stadt schütteln. Und dann die ersten Feste, die Kerbe in den Stadtteilen und das Heinerfest. Von klugen Frauen und Männern 1951 aus der Taufe gehoben, um der vom Krieg schwer getroffenen Stadt und ihrer leidtragenden Bevölkerung Mut zum Leben zu machen. Später als Erwachsene verbrachten wir Stunden im Hamelzelt und hatten dort immer „ de ganze Daag so en vasteckte Dorscht“ wie de Datterich. Neue Schulen wurden gebaut, es gab keinen Schichtunterricht mehr. Meine Stadt ist aus Trümmern wieder erstanden.
Alle Bilder sind präsent. Durch sie erkenne ich mich. Verlasse ich diese Stadt für kurze Zeit, weiß ich, dass ich heimkehre. Hier finde ich mich wieder vor. Ihre Sprache ist mir vertraut, ich stehe mit Land und Leuten auf DU und Du und kenne ihre Geschichte: die höfische Zeit, ihre kulturelle Blüte zu Beginn des vorigen Jahrhunderts mit dem Jugendstil, die republikanischen und revolutionär-literarischen Anfänge nach dem ersten Weltkrieg und der tiefe politische Fall 1933 mit der Nazi-Diktatur, als auch Darmstadt braune Hochburg wurde. Die Folgen davon haben mich geprägt. Die Trümmer gehören zu den ersten Bildern.
Meine Heimat ist diese Stadt. Sie liegt in der Provinz, manches Mal abfällig gemeint. Wer aber die Provinz lobt, weiß, dass nach dem alles vernichtenden Krieg Leben nur noch aus dem engeren Lebensbezirk möglich war. Aus der Provinz kam demokratische Erneuerung. Sie ist das Fundament meiner heimatlichen Provinz. Städte waren vor den Staaten, lautet eine historische Erkenntnis. Die Provinz gewann die humanen Bezirke der Politik zurück. Von hier aus wurde die Tür zur Welt geöffnet: auch 16 Partnerstädte haben daran ihren Anteil. Wir sind in ihr und in der Welt zu Hause. Weltläufig mit festem Boden unter den Füßen.
Nach fast 40 Jahren Dienst in Stadt und Land, davon 29 Jahre hauptamtlich in meiner Stadt, bin mit ihr immer noch über einige kulturelle Vereinigungen und Initiativen tätig verbunden, denn all diese Bilder haben mich eines gelehrt: Kultur gibt der Stadt Zusammenhalt. Sie ist das innere Gesicht unserer Stadt, die einmal zur kulturellen Hauptstadt Hessens nobilitiert wurde.
Peter Benz