Das 1. Darmstädter Heinerfest
Triumph der Lebensfreude: Das erste Darmstädter Heinerfest
von Sabine Welsch
„Der Mensch… braucht Frohsinn und Freude und sucht sie vor allem, wenn er soeben Notzeiten und Gefahren hinter sich hat. So ist es denn kein Wunder, dass vor allem nach Pestilenzen, Hungersnöten, Erdbeben, Katastrophen und Kriegen die Menschen - wie von unwiderstehlicher Naturgewalt angetrieben – inmitten von Trümmern, ja sogar angesichts kaum begrabener Opfer und kaum verwundener Trauer zusammenströmen, um fröhlich oder gar auszulassen zu sein.“ Schreibt hier jemand von der Zeit nach Corona? Nein, dieser eindringliche Appell ist 70 Jahre alt und stammt von Hans J. Reinowski, Gründer und erster Chefredakteur des Darmstädter Echo. Darf und kann man nach erlittenen Verlusten wieder feiern? Keiner brauche sich „seiner Heinerfestfreude zu schämen, denn das Heinerfest ist ein Fest der Wiedergeburt.“
Das erste Heinerfestplakat von 1951 mit dem Datterich von Hartmuth Pfeil
Im Winter 1950 - sechs Jahre nach dem vernichtenden Bombenangriff auf Darmstadt - wurde die wagemutige Idee geboren, inmitten des Trümmerfelds ein Heimatfest zu veranstalten. „Triumph der Lebensfreude über die Tristesse der Nachkriegsjahre“ lautete damals die Devise. Wie sollte das neue Fest heißen? Ein Aufruf erging an die Bevölkerung, die mehrheitlich für „Heinerfest“ stimmte, das fortan rund um das Residenzschloss gefeiert werden sollte.
Das erste Heinerfest (29.06. – 02.07.1951) wurde zu einem Fest der Erinnerung und der Trauer, aber auch der ausgelassenen Freude darüber, nach jahrelanger Entbehrung endlich wieder einmal miteinander feiern zu können. Bei schönem Sommerwetter startete es am Freitagabend mit einem Konzert am Marktbrunnen. Das Orchester Paul Bänisch spielte Werke Darmstädter Komponisten, über 900 Sänger und ein 40-Mann-Blasorchester verbreiteten Feststimmung.
Wer mit der Luftwerbung „Aero“ für 25 DM über Darmstadt flog, der sah nicht nur die durch den Krieg verursachten Wunden. Er konnte überall auch den unbändigen Aufbauwillen der Darmstädter Bevölkerung entdecken: Ihren ungebrochenen Optimismus demonstrierten sie in einem Heinerfest-Triumphbogen, gebastelt aus Holzstangen eines Baugerüstes. Noch kurz vor Beginn des Heinerfests „fraß sich ein Riesenbagger mit gierigem Appetit in die Mauerreste eines zerstörten Hauses, warf in Eile den Bissen auf die startbereiten Lastwagen, und ab gings durch die Mitte... Der Leiter der städtischen Trümmerbeseitigung zeigte den Einwohnern was eine Harke ist. Der Schweiß rann in ehrlichen Strömen, es gab keine Arbeiterstandbilder zu sehen, und der olle Bismarck schaute sehr verwundert in die Gegend.“ (Darmstädter Tagblatt, 30.6.1951) Die geschundene Stadt erhielt ein Festgewand: Man bepflanzte Backsteinkästen, beseitigte Schutt oder deckte ihn mit Tannengrün zu, spannte Blumengirlanden über Straßen und ließ blau-weiße Fähnchen flattern.
Heinerfesttreiben vor dem zerstörten Schloss, Foto Georg Kreim
Solchermaßen herausgeputzt wurde auf dem Marktplatz am Samstagmorgen das erste Heinerfest offiziell eröffnet. Eine Festouvertüre erklang, und Oberbürgermeister Dr. Ludwig Engel gedachte mit einer Schweigeminute den Toten des 11. Septembers 1944: „Dieses Darmstädter Heinerfest soll uns alle umschlingen, Darmstädter, Bessunger, Arheilger und Eberstädter, Einheimische und Zug’raaste, alte und junge Heiner, um stolz zu sein auf diese Stadt, die Darmstadt heißt, die nie untergegangen ist und die wir mehr denn je liebhaben.“ (Darmstädter Echo, 2.7.1951)
Nach dem Heinerfestmarsch und Heinerlied „Darmstadt, du sollst leben“, erklang das Glockenspiel von der Schallplatte, denn auch der Glockenturm war fast gänzlich zerstört worden. Ballonwettfliegen und Mundartgedichte von Robert Stromberger und Hans Herter, alias Mickedormel, rundeten das Samstagprogramm ab. Die Hessische Spielgemeinschaft, die bis heute eine Veranstaltung zum Heinerfest beiträgt, zeigte Szenen aus Ernst Elias Niebergalls „Datterich“. Unter den Schlossarkaden residierte die Puppenbühne von Hanns Hildebrandt, dessen „Heinerle“ Klein und Groß bis 1973 entzückte. Heimatkundliche Ausstellungen, Tanz- und Turnvorführungen fanden statt, und die Spielschar Darmstadt-Eberstadt zeigte: „Wie Liebig noch en Heiner woar“. Der Darmstädter Einzelhandel, ohne dessen tatkräftige Unterstützung die ersten Heinerfeste nicht zustande gekommen wären, veranstaltete einen Schaufensterwettbewerb und initiierte erstmals einen verkaufsoffenen Sonntag. Auch die Familie Merck, die Technische Universität Darmstadt und die Tanzschule Bäulke engagierten sich bereits beim ersten Heinerfest. Wer allerdings die kuriose Idee hatte, dass man sich mitten im Hochsommer mit einem Eisbär fotografieren lassen konnte, ist heute nicht mehr zu ermitteln.
Der 100.000 Heiner, Heiner Wilfried Münster, der Darmstadt zur Großstadt machte, erhielt von Festpräsident Julius Reiber u.a. eine Babyausstattung und einen Rasierapparat.
Karussells, Aufführungen von Liliputanern, ein Flohzirkus und ein Affentheater machten „aus Marktplatz, Friedensplatz und Theaterplatz wurde ein einzigartiger Jahrmarkt der Sensationen - ein buntes, bezauberndes Bild der Fröhlichkeit und des leichten Lebens“ (Darmstädter Echo, 30.6.1951). Mit einem Motorbootrennen auf dem Friedensplatz, einer umfunktionierten Autoscooterbahn, hatte der Heinerfestausschuß gar den „Woog ins Festgelände geholt“. Es herrschten paradiesische Zustände: Aus dem Marktbrunnen floss Wein, und die Schlossbastion verwandelte sich bereits beim ersten Heinerfest in ein Weindorf. Am Montag blieben alle Schulen geschlossen, und die kleinen Heiner durften „Sackhibbe, Worschtschnabbe und Eierlaafe“, derweil die großen Heiner sich beim Frühschoppen vergnügten.
Der emotionale Höhepunkt des Festes war das Eintreffen der im Krieg evakuierten Darmstädter. Am Heinerfestmontag wurden sie auf der Rathausterrasse von Festpräsident Julius Reiber begrüßt. Jeder der 900 Evakuierten erhielt vier Bons im Wert von je 0,50 DM, die überall auf dem Festgelände eingereicht werden konnten – ein Vorläufer unserer heutigen Heinerfest-Wertmarken. Kostenlos war der Kuchen, den die Bäckerei Bormuth stiftete.
Der Eisbar, das Maskottchen der ersten Heinerfestes
Krönender Abschluss des ersten Heinerfestes war das große Feuerwerk, bis heute das Finale des Heinerfests. Alle waren sich damals einig: Das erste Heinerfest war ein Riesenerfolg. Euphorisch resümierte die Schaustellerzeitung „Komet“: „Nun hat auch Darmstadt sein Heimatfest, das erste ‘Heiner’-Fest, hinter sich und, um es gleich zu sagen, es hat eingeschlagen! ... Die vorgesehenen 50 000 Abzeichen haben nicht gereicht und außer aus der Stadt und der näheren Umgebung kamen Tausende von Besuchern mit Sonderzügen.“